ANDRRA

FOLKLORE IM AUFBRUCH.

ÜBER ERFOLG

Foto: Jetmir Idrizi.

Die Solokünstlerin ANDRRA ist eine Brückenbauerin. Sie verbindet auf ihrer jüngsten EP „Palinë“ albanische Folklore mit großstädtischer Aufbruchsstimmung und präsentiert alte albanische Texte und persönliche Geschichten in eigenen elektronischen Klangkleidern. Damit hat sie nicht nur für sich selbst eine eigene Kunstform gefunden, sondern auch für zahlreiche Hörer aus ihrer Heimat Kosovo eine musikalische Brücke zwischen Tradition und Zeitgeist geschlagen. Und mehr noch: ANDRRA spricht damit auch über die Grenzen ihrer Heimat hinweg ein Publikum an und katapultiert die alten Geschichten und Texte aus den Dörfern des Kosovo auf die Bühnen internationaler Clubs und Festivals.

Interview: Alexandra Helena Becht

Die Solokünstlerin ANDRRA kennt die großen und die kleinen Bühnen. Während sie in ihrer Heimat Kosovo dank eines Charterfolges bereits als Main Act bei Festivals gefeiert wird, muss sie sich gleichzeitig als Berliner Indie-Künstlerin von Gig zu Gig ihr eigenes Publikum in Deutschland erspielen. Wie klingt Erfolg ganz unabhängig von der Größe der Bühne oder des Publikums?

ANDRRA:
Ich kann mich an den Moment erinnern, als die Songs meiner EP das erste Mal wirklich so klangen, wie ich es mir erhofft hatte. Die Idee war fast greifbar, und das war für mich ein echter Erfolg. Denn das war für mich die schwierigste Stufe, eine Idee umsetzen zu lernen. Ich hatte zwar lange irgendwelche Ideen, aber nicht die richtigen Mittel oder das Netzwerk, um sie umzusetzen. Dank Förderungen vom Musicboard Berlin und von der Initiative Musik erhielt ich die nötigen finanziellen Mittel, um mit Leuten, wie beispielsweise PC Nackt, zusammenarbeiten zu können. Plötzlich war es eine andere Ebene des Arbeitens.

Als gebürtige Bayerin mit kosovarischen Wurzeln zog es ANDRRA in die Musikhauptstadt Berlin, wo sie ihren Co-Produzenten PC Nackt traf und ihre EP „Palinë“ aufnahm. Inzwischen ist ANDRRA ein fester Bestandteil der Berliner Musikszene, spielt auf etablierten Festivals wie auf dem Pop-Kultur Festival 2018 und erhält Förderungen, um ihre Kunst umsetzen zu können. Reicht es finanziell, um hauptberuflich als Musikerin leben zu können, oder sind weitere Jobs nötig?

ANDRRA:
Ich hatte lange einen Teilzeitjob, denn trotz der Förderungen durch das Musicboard Berlin und die Initiative Musik reichte es nicht, um von der Musik allein leben zu können. Ich habe schon alle möglichen Jobs gemacht. Je weniger es mit mir zu tun hatte, umso lieber war es mir. Ich wollte keinen Job machen, der so ähnlich ist wie das, was ich eigentlich machen möchte. Ich hatte Angst vor Zufriedenheit und dass ein Job „okay“ ist, weil er vielleicht interessant ist und ich darin hängenbleibe. In dieser Hinsicht fand ich Bequemlichkeit zu gefährlich.

ANDRRA fotografiert von Gerta Xhaferaj.

Das Springen zwischen einem Job, den man machen muss, und einem Job, den man machen will, bringt manche KünstlerInnen in ein Ungleichgewicht und einen Zwiespalt. Kam jemals der Gedanke auf, die Musik aufzugeben und einem geregelten Arbeitsverhältnis mit sicherem Einkommen nachzugehen?

ANDRRA:
Nein, ich denke nicht, dass ich die Musik jemals aufgeben werde. Natürlich, ich weiß nie, wie es langfristig finanziell funktionieren wird. Aber ich möchte es riskieren und werfe mich selbst ins kalte Wasser. Ich glaube, solange ich nicht davon leben muss, werde ich es auch nicht. Ich glaube, nur mit dieser Einstellung bin ich offener und empfange dadurch mehr Chancen für meine Musik, die ich sonst womöglich gar nicht so wahrnehmen würde.

Dank eines Gastauftrittes bei "The Voice Of Albanian" erfreut sich ANDRRA in ihrer Heimat Kosovo großer Beliebtheit. Die Vermutung liegt nahe, dass eine Musikkarriere vor Ort leichter anzugehen wäre als in Berlin, wo die Mehrheit der Hörer die Texte nicht versteht und sich in die ungewöhnliche Konzept-EP erst hineindenken muss. Sind ein Plattenvertrag und breite Aufmerksamkeit womöglich gar nicht das oberste Ziel oder ist mit dem nächsten Album eine andere musikalische Richtung geplant?

ANDRRA:
Grundsätzlich bin ich offen für große und kleine Bühnen, für einen Plattenvertrag oder für einen weiteren Alleingang. Ich habe mittlerweile ein Management, das mich unterstützt. So kann ich mich auf meine neuen Songs konzentrieren. Mein nächstes Album wird eine Mischung aus weiteren alten Texten und meinen eigene neuen Texten sein und damit ein Übergang zu etwas Neuem werden.

Foto: Raul Petri.

Mit der EP „Palinë“ und dem dazugehörigen Dokumentarfilm und Song-Textbuch hat ANDRRA nicht nur ein akustisches, sondern auch ein visuelles Werk geschaffen. Wer sich ein solches Projekt im Alleingang zutraut und erfolgreich finalisiert, muss selbst zu einhundert Prozent überzeugt davon sein, dass es die Mühe wert ist. Kamen im Entstehungsprozess je Zweifel auf, dass sich für diese Musik in Deutschland ein Publikum finden lässt?

ANDRRA:
Ja, ganz kurz kamen Zweifel auf, die ich aber nicht so ernst genommen habe. Letztlich sind ja Zweifel im Alltag völlig normal. Ich dachte, dass meine Musik vielleicht niemandem gefallen würde. Aber mein Geschmack ist nicht so extrem oder ausgefallen – ich dachte, wenn es mir gefällt, dann gibt es sicher noch andere Menschen, denen es auch gefallen wird. Die Herausforderung ist es, diese zu erreichen. Im albanischsprachigen Raum gab es natürlich schnell ganz viele Leute, die den gleichen Geschmack hatten und in meinen Songs das Gleiche gefunden haben, was ich selbst auch als Hörerin gesucht habe. Ich bin an das Album nicht als Künstlerin herangegangen, sondern als Rezipient. Mir hat in der Popkultur etwas gefehlt, eine Verlinkung von bestimmten Geschichten und einer bestimmten Ästhetik. Ich hatte das Bild vor Augen, diese alten Geschichten des Kosovos in einen modernen Kontext, wie zum Beispiel in einen Club wie das Berghain zu versetzen.

ANDRRA musste einige Anläufe nehmen, um ihren eigenen Sound ganz nach ihren Vorstellungen umsetzen zu können. Sie ist mit ihren Songs und Ideen während der Produktion gereift und professioneller geworden. Inwieweit hat sich die persönliche Beziehung zur eigenen Musik dadurch verändert?

ANDRRA:
Solange ich an meinen Songs gearbeitet habe, habe ich sie als Teil von mir wahrgenommen. Seitdem sie fertig und online für jeden verfügbar sind, fühlen sie sich nicht mehr an wie meine Lieder. Als hätten die Songs sich nun emanzipiert und von mir gelöst. Dadurch kann ich sie mit mehr Distanz betrachten und genießen.

DIE KÜNSTLERIN
ANDRRA, die mit bürgerlichem Namen Fatime Kosumi heißt, wurde in Rosenheim als Tochter albanischer Eltern geboren. 2001 zog es sie in das Heimatdorf ihrer Familie, wo sie ihren Wurzeln auf die Spur ging. Derzeit lebt ANDRRA als Musikerin in Berlin. Mit ihrer 2017 veröffentlichten Debüt-EP „Palinë“ behandelt sie Themen wie Kinderehen und die Unterdrückung von Frauen im Kosovo – eine anhaltende Problematik.
Auf Basis der alten Texte aus den Dörfern ihrer Heimat und persönlichen Erzählungen von den Frauen ihrer Familie, hat ANDRRA, zusammen mit ihrem Co-Produzenten PC Nackt, eigene Songs komponiert, die das Erbe und die Erfahrungen weitertragen. Der dazugehörige Dokumentarfilm „Kangë e Defa“, den ANDRRA zusammen mit dem Regisseur Vincent Moon gedreht hat, liefert das visuelle Beiwerk und verleiht der Geschichte über kulturelles Erbe, Herkunft und Aufbruch eine ganz eigene zeitgenössische Patina.

Mit steigender Professionalität können auch die Anforderungen, die man an sich selbst stellt, wachsen. Gibt es mit Blick auf das nächste Album und den weiteren musikalischen Werdegang eine bestimmte Zielsetzung oder Erwartungshaltung?

ANDRRA:
Ich denke nicht zwingend darüber nach, ob mein nächstes Album erfolgreich sein wird. Ich denke nicht so sehr über das große Ganze nach, sondern über die einzelnen konkreten Schritte. Es geht mir in erster Linie um den Schaffensprozess. Erst mal möchte ich meine Ideen in Songs übersetzen. Es war mir immer wichtig, dass ich absolut frei in meiner Musik bin und künstlerischen Erfolg für mich selbst definiere.

Als Indie-Musiker arbeitet man in der Regel freier als in der Maschinerie eines Major-Labels. Die Musik ist noch kein Produkt, der Musiker ist noch keine Marke. Ist es überhaupt vorstellbar, ein Teil dieses von Zahlen getriebenen Geschäfts zu werden oder würde es die Kunst kaputt machen?

ANDRRA:
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es als Künstler Spaß macht, wenn in erster Linie bestimmte Zahlen stimmen müssen. Klar, es kommt womöglich trotzdem ein gutes kreatives Ergebnis heraus, aber es ist meines Erachtens dann eher eine Übersetzung von Zahlenkoordinaten statt von einer persönlichen Idee.

Foto: Jetmir Idrizi.

„Deine Musik rührt mich zu Tränen, obwohl ich nicht ein Wort verstehe.“ – Solch bewegendes Feedback hört ANDRRA häufig nach ihren Konzerten. Es scheint fast, als hätte sie mit ihrer EP „Palinë“ die DNA von Generationen von Großmüttern, Müttern und Töchtern vertont. Der neue Sound folgt der Melancholie der alten Texte und persönlichen Geschichten. ANDRRA selbst wirkt eher wie eine Frohnatur, wie gehen diese Gefühlslagen zusammen?

ANDRRA:
Ich habe irgendwann mal aufgehört zu glauben, dass man besonders depressiv oder melancholisch sein muss, um als Künstler besonders kreativ zu sein. Das habe ich lange geglaubt und mich daher lange Zeit als nicht kreativ empfunden. Weil ich einfach einen positiven Blick auf die Welt habe. Ich möchte frei sein und emotional alles sein dürfen: glücklich und traurig. Alle Erlebnisse sollten herzlich willkommen sein. Ich glaube, aus dieser Haltung kann sogar eine interessantere Kunst entstehen, als wenn man sich in seinem eigenen Sich-Schlecht- oder Sich-Super-Fühlen suhlt. Ich will einen neugierigen Blick für beides haben.

Was ANDRRAs Musik so besonders macht, ist neben dem Konzept, auch die visuelle Ästhetik ihrer Videos und Artworks. Musik zu schreiben bedeutet für sie nicht nur eine Klang-, sondern auch eine eigene Bildsprache zu entwickeln. Woher rührt diese Leidenschaft, Geschichten zu erzählen?

ANDRRA:
Ich habe eigentlich schon beim Schreiben eine gewisse Ästhetik vor Augen. Ich liebe das Zusammenspiel von Audio und Video. Filme, die super Musik haben, und Musik, die super Videos hat. Wenn mir also jemand sagen würde, dass er ein Musikvideo für einen meiner Songs in totaler Eigenregie macht, dann wäre ich total traurig, weil mir damit ein wichtiger Teil, der mir großen Spaß macht, genommen werden würde.

Foto: Marius Spita.

Erfolg ist wie gefühlte Temperatur, eine Sache der persönlichen Wahrnehmung. Selbst wenn alles eigentlich gut läuft, neigt man manchmal zur Schwarzmalerei. Es geht einem nicht schnell genug, das Ergebnis ist nicht gut genug … Gibt es diese Phasen auch bei ANDRRA?

ANDRRA:
Ja, diese Phasen gab es. Aber rückblickend betrachtet weiß ich, dass es ein Fehldenken aus der Frustration heraus war. Denn unabhängig vom Resultat gibt mir das Arbeiten an meiner Musik sehr viel. Dieses Gefühl, dass man sich für die Musik opfert und man nicht so belohnt wird, wie erwartet, könnte bei mir nicht lange überleben, da ich mittlerweile der Ansicht bin, dass die Musik mir und niemandem etwas schuldet. Sie zwingt mich auch nicht dazu, mich mit ihr zu beschäftigen. Sie ist einfach da für die, die sich ihrer bedienen wollen. Seit dieser Einsicht habe ich Respekt vor jedem einzelnen Ton.

Zu wenige weibliche Musiker in Festival-Line-ups, zu wenige Frauen in Führungspositionen in der Entertainmentbranche, schlechtere Gagen und Gehälter im Vergleich zu männlichen Kollegen … die Diskussion um den Geschlechterunterschied ist seit geraumer Zeit in vollem Gange. Definieren Frauen Erfolg anders als Männer?

ANDRRA:
Ich fürchte, ich kann und will das nicht für alle Frauen oder Männer beantworten. Es gibt Dinge, die ich persönlich als Erfolg ansehe, die meine männlichen Kollegen vielleicht nicht so einstufen würden. Es gab beispielsweise eine Situation während der Studioarbeit, in der ich das Gefühl hatte, dass es mir musikalisch entgleitet und eine Richtung eingeschlagen wird, die mir nicht gefällt. Ich weiß noch, wie ich dasaß und mich zusammenreißen musste, um das Ruder wieder an mich zu reißen und mich zu trauen, gestandenen Musikern mit mehr Erfahrung zu sagen, was ich möchte und was nicht. Ich glaube, für einen Mann wäre es gar kein Problem gewesen, zu sagen, was er will und somit auch kein großes Erfolgserlebnis. Wir haben unterschiedliche Ausgangspunkte. Als Frau entschuldigt man sich unglaublich oft für die eigene Bestimmtheit und für getroffene Entscheidungen. Man denkt auch viel zu oft darüber nach, wie man wahrgenommen werden könnte. Mittlerweile finde ich allerdings, dass die Wahrnehmung des Anderen, die Angelegenheit des Anderen ist und es unglaublich wichtig ist, sich nicht darüber zu identifizieren.

Viele junge Musiker ziehen nach Berlin, um sich in der hiesigen Szene zu vernetzen oder gar in der Branche Fuß zu fassen. Nicht alle haben einen klaren Plan vor Augen oder gar ihren persönlichen künstlerischen Weg gefunden. Sie wissen noch nicht genau, wohin sie sich musikalisch bewegen wollen. Welchen Rat sollten diese jungen Musiker befolgen?

ANDRRA:
Man sollte so wach wie möglich sein und das machen, was man in dem Moment für richtig hält. In den Momenten, in denen man noch im Gestern oder schon im Morgen ist, verpasst man total viel. Es ist die Arbeit wert, den eigenen Blick zu klären. Ich finde nicht, dass die Musik oder Kunst im weitesten Sinne zwingend authentisch oder autobiographisch sein muss. Ich möchte neue Räume schaffen und in neue Räume eintreten, Geschichten erzählen und Geschichten hören. Ob diese dann autobiographisch sind oder nicht, ist völlig irrelevant.

ANDRRA fotografiert von Gerta Xhaferaj.

Danke an ANDRRA für das Interview. Danke an die Leserinnen und Leser für das Interesse.

We have placed cookies on your computer to help make this website better. Read the cookies policy
yes, I accept the cookies